Justiz im Nationalsozialismus

I. Ausgangslage

Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs fand mit dem Zusammenfall der deutschen Monarchie der Wechsel der Staatsform zur Republik statt – gleichzeitig blieben aber Strukturen in der Verwaltung und in der Justiz bestehen. Während in der Politik die Entscheidungsgewalt nun von durch Wahlen legitimierten Volksvertreter_innen getragen wurde, saßen in deutschen Landes- und Reichsgerichten weiterhin dieselben Richter, Staatsanwälte und Justizbeamtenschaft[1], die auch schon zur Kaiserzeit über Recht und Unrecht geurteilt hatten. Die große Mehrheit der Jurist_innen in der Weimarer Republik war monarchistisch und antiparlamentarisch gesinnt. In ihrem Selbstverständnis herrschte jedoch die Vorstellung einer unpolitischen und sachlichen Entscheidungsinstanz vor. Doch in der Ablehnung der Republik und des Pluralismus sprach sich der juristische Stand für die Wiederherstellung der alten Verhältnisse aus. Die Beamten_innen mussten einen Eid auf die republikanische Verfassung ablegen, gleichzeitig sah man sich aber nur der Nation, nicht der Staatsform verpflichtet. Im „Deutschen Richterbund“ waren die konservativ eingestellten Jurist_innen organisiert. Dem gegenüber stand der „Republikanische Richterbund“, in dem ein kleiner Anteil der Richter_innen die Loyalität zur Republik und zur Weimarer Verfassung demonstrierte und den „unpolitischen Richter“ als Illusion verwarf.

Zu Beginn der 1920er Jahre standen sich in der Republik radikale politische Kräfte vom rechten und linken politischen Spektrum gegenüber und bedrohten die Stabilität der Republik. Nach dem Mord an dem liberalen Außenminister Rathenau im Juni 1922 wurde das Republikschutzgesetz verabschiedet, das republikfeindliche Aktivitäten unterbinden sollte. In der Folge wurde politische Kriminalität konsequenter verfolgt, dabei wurde aber von Richtern_innen meist die politische Motivation der Straftaten differenziert betrachtet: Bei linksradikalen Aktionen wurde das Strafmaß voll ausgeschöpft, während Rechtsradikale überwiegend straffrei davon kamen. Die Angst vor einem kommunistischen Umsturz wurde bei der Beurteilung der Münchner Räterepublik 1919 beschworen und das Rätesystem unter Einsatz von Freikorpseinheiten niedergeschlagen. Die Anführer_innen des nationalistisch-monarchistisch motivierten Kapp-Putsches 1920 wurden durch die Richter_innen in ihrer Einstellung bestätigt und nur zu geringen Haftstrafen verurteilt oder freigesprochen.

Die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) wurde 1920 gegründet, ab 1921 hatte Adolf Hitler den Parteivorsitz inne. Infolge des Hitler-Ludendorff-Putsches 1923, bei dem Hitler und das ehemalige Mitglied der Obersten Heeresleitung Ludendorff in München gewaltsam die Macht übernehmen wollten, wurde die NSDAP durch den Verstoß gegen das Republikschutzgesetz im gesamten Deutschen Reich verboten. Hitler und Ludendorff mussten sich vor Gericht verantworten, wurden aber trotz der Anklage des Hochverrats nicht vor den Leipziger Staatsgerichtshof sondern vor das bayerische Volksgericht geladen. In dem Verfahren konnte Hitler seine Motive darstellen und die ihm zugedachte Aufmerksamkeit propagandistisch ausnutzen. Er wurde zu einer fünfjährigen Festungshaft verurteilt, kam aber durch gute Führung bereits nach neun Monaten wieder auf freien Fuß. Die Haftzeit nutzte er, um sein erstes Buch „Mein Kampf“ zu verfassen, das seine Weltanschauung und Absichten für eine zukünftige Politik der NSDAPschildert. Das Verbot der NSDAP wurde wieder aufgehoben und die NSDAP Anfang 1925 wiedergegründet. Neben den Darstellungen in dem programmatischen Buch „Mein Kampf“ wurden bei einer Vernehmung Hitlers im Zuge eines Prozesses eine neue Taktik deutlich: Nicht durch einen Putsch, sondern auf legalem, verfassungsgemäßen Weg wollte Hitler mit der NSDAP an die Macht gelangen und eine „geistige Revolution“ umsetzen.

II. Recht und Justiz in der NS-Zeit

Die Nationalsozialist_innen hatten keine eigene Vorstellung einer Rechtsordnung, sondern versuchten, das bestehende Recht für ihre Zwecke umzugestalten. Dadurch konnten sie das Recht und die Justiz dazu ausnutzen, ihre Macht zu sichern und den Einfluss politischer Gegner_innen gewaltsam zu unterbinden und darüber hinaus ihre Rassenpolitik unter den Anschein der juristischen Legitimität stellen. Der deutsch-amerikanische Politikwissenschaftler Ernst Fraenkel beschreibt in seinem Buch „The Dual State“ (1940/41) das Herrschafts- und Rechtssystem des nationalsozialistischen Deutschlands, in dem er den „Normenstaat“ und den „Maßnahmenstaat“ unterscheidet und diese Einteilung auf das sogenannte Dritte Reich anwendet. Im „Normenstaat“ gelten die Gesetze weiterhin, darunter fallen vor allem wirtschaftliche und vertragsrechtliche Angelegenheiten; im „Maßnahmenstaat“, der die politisch-ideologischen Bereiche umfasst, setzt man sich jedoch über Recht hinweg, um politische Zwecke zu verfolgen.

Demontage des Rechtsstaates, Machtsicherung und Ausschaltung politischer Gegner_innen 

Die Grundlage für eine Legitimation der Auflösung des Rechtsstaates und das Errichten der NS-Diktatur bildeten Besonderheiten der Verfassung der Weimarer Republik, die die Politik des  Deutschen Reichs bereits ab 1930 stark beeinflussten. Laut Artikel 48 der Weimarer Verfassung konnte der Reichspräsident[2] in nicht näher definierten „Ausnahmesituationen“ die Reichswehr im Inneren einsetzen, Teile des Grundrechts außer Kraft setzen und Verordnungen mit Gesetzescharakter erlassen. Bei Einspruch gegen diese sogenannten Notverordnungen durch den Reichstag konnte dieser vom Reichspräsidenten aufgelöst werden und die Reichsregierung bis zu Neuwahlen mit den Notverordnungen regieren. Seit dem Scheitern der letzten parlamentarischen Mehrheitsregierung im Jahr 1930 waren mit dieser Methode Präsidialregierungen ohne parlamentarische Mehrheit an der Macht. Als Reichskanzler einer solchen Regierung wurde Hitler am 30. Januar 1933 durch den Reichspräsidenten von Hindenburg eingesetzt. Durch Hindenburg wurde zwei Tage später der Reichstag aufgelöst und Neuwahlen für den 5. März angesetzt.

Um linke politische Gegner_innen auszuschalten, war bereits unter der vorangegangenen Präsidialregierung eine „Verordnung zum Schutz des deutschen Volkes“ geplant worden, die am 4. Februar von Hindenburg erlassen wurde und die Presse- und Versammlungsfreiheit beschnitt. Eine weiter reichende Beschneidung der Grundrechte wurde aber unter Ausnutzung des Reichstagsbrands in der Nacht vom 27. Februar 1933 vorgenommen. Mit der Begründung eines geplanten, staatsgefährdenden Aufstands kommunistischer Personen, dem man Einhalt gebieten müsse, wurde am folgenden Tag die „Verordnung zum Schutz des deutschen Volkes und Staates“ erlassen – die sogenannte „Reichstagsbrandverordnung“. Damit wurden wichtige Grundrechte außer Kraft gesetzt: Die Freiheit der Person, die Vereins- und Versammlungsfreiheit, das Post-, Brief-, Telegraphen- und Fernsprechgeheimnis und die Unverletzlichkeit des Eigentums und der Wohnung. Die Notverordnung, die nur vorübergehend gelten sollte, wurde hier „bis auf weiteres“ geltend gemacht – letztendlich bildete sie die Grundlage für die nationalsozialistische Diktatur bis 1945. 1933 wurde sie zuallererst dazu genutzt, politische Gegner_innen zu verhaften. Kommunist_innen, Sozialdemokrat_innen, Gewerkschaftler_innen und andere Oppositionelle wurden ohne Anklage und Rechtsbeistand in sogenannte „Schutzhaft“ genommen. Die SA baute ohne richterliche Kontrolle erste Konzentrationslager auf, in denen schon 1933 mehr als 100.000 Menschen inhaftiert wurden und 500 bis 600 Menschen zu Tode kamen.

Gleichzeitig wurde nach dem Reichstagsbrand ein wichtiger rechtsstaatlicher Grundsatz verletzt: „nulla poena sine lege“, zu Deutsch „keine Strafe ohne Gesetz“. Dieses Rückwirkungsverbot wurde durch die Verhängung der Todesstrafe für den vermutlichen Brandstifter im Reichstag Van der Lubbe verletzt, da das Strafmaß erst nach der Tat erhöht wurde.

Die Reichstagswahlen Anfang März ergaben eine Mehrheit für eine Koalition aus NSDAP und DNVP mit der Unterstützung weiterer politischer Kräfte, die von den Nationalsozialist_innen unter Druck gesetzt wurden. Ende März konnte durch das „Ermächtigungsgesetz“ die Untergrabung des Rechtsstaats weiter vorangetrieben werden. Das „Ermächtigungsgesetz“ ermöglichte es der Reichsregierung, ohne parlamentarische Zustimmung und Kontrolle Gesetze zu verfassen. Diese auf vier Jahre angelegte Bestimmung wurde bis 1945 verlängert.

Von Seiten der Justiz erfolgte kein Einspruch, offiziell verlief alles verfassungsgemäß. Gegen republikanisch eingestellte und jüdische Richter_innen erfolgten schon 1933 Maßnahmen und die Vertreibung aus ihrem Beruf. Allgemein wurde die „nationale Revolution“ begrüßt und die Verbesserungen durch ein gesteigertes Einkommen, das Vorgehen gegen Kommunisten_innen und positiv interpretierte Zusicherungen Hitlers geschätzt.

Durch das „Ermächtigungsgesetz“ konnte nun die Gleichschaltung der Länder erfolgen, die NSDAP wurde per Gesetz als einzige Partei etabliert und auch die Einheit von Staat und Partei gesetzlich festgeschrieben.

Da Hitler befürchtete, dass die SA zu mächtig werden könnte, wurde im Juni 1934 offiziell ein Putschversuch durch die SA konstruiert. Scheinbar aufrührerische Personen wurden ermordet und weitere Aktivitäten der SA durch ein Verbot der Organisation unterbunden. Neben den Morden an SA-Führer Röhm und anderen hochrangigen Funktionären_innen wurden auch Morde an unbeteiligten, aber den Nationalsozialisten_innen hinderlichen Persönlichkeiten verübt. Der Reichsjustizminister Gürtner, ein deutsch-nationaler Befürworter eines autoritären Rechtsstaats, schenkte der Begründung durch das Machtstreben der SA Glauben, protestierte aber nicht gegen die davon unabhängigen „Säuberungsaktionen“ der Nationalsozialist_innen. Damit wurde die staatliche Rechtsordnung endgültig der nationalsozialistischen Bewegung unterstellt, fortan konnten „nationale Gründe“ für die Umgehung der Gesetze geltend gemacht werden. Der Rechtsstaat war nicht mehr existent. Die Justiz hatte sich selbst gleichgeschaltet.

Die Willkür des Rechtsstaates und das Führerprinzip auch in der Justiz und dem Rechtwesen wurden in dem Beschluss des Großdeutschen Reichstags vom 26. April 1942 in der letzten Sitzung des Reichstags deutlich. Darin wird verkündet: „[…] Der Führer muß daher – ohne an bestehende Rechtsvorschriften gebunden zu sein – in seiner Eigenschaft als Führer der Nation, als Oberster Befehlshaber der Wehrmacht, als Regierungschef und oberster Inhaber der vollziehenden Gewalt, als oberster Gerichtsherr und als Führer der Partei jederzeit in der Lage sein, nötigenfalls jeden Deutschen […] mit allen ihm geeignet erscheinenden Mitteln zur Erfüllung seiner Pflichten anzuhalten und bei Verletzung dieser Pflichten nach gewissenhafter Prüfung ohne Rücksicht auf sogenannte wohlerworbene Rechte […] ihn […] ohne Einleitung vorgeschriebener Verfahren aus seinem Amte, aus seinem Rang und seiner Stellung zu entfernen.“[3]

Umsetzung der nationalsozialistischen Rassenideologie – die Rolle von Recht und Justiz

In dem nationalsozialistischen totalitären Staat stand die Zusammengehörigkeit innerhalb der "deutschen Volksgemeinschaft" an oberster Stelle. Das Individuum ging im Staat und in der Erfüllung staatlicher Vorgaben auf anstatt seine persönliche Freiheitsrechte gegenüber dem Staat behaupten zu können. Die Zugehörigkeit zur Volksgemeinschaft fußte auf einer rassistischen Ideologie, die Menschen über Abstammung und Vererbung sowie äußerliche Kriterien einteilte. Nur wer „deutschen Blutes“ war, konnte Staatsbürger_in und Mitglied der Volksgemeinschaft sein und auch die rechtliche Sicherheit war an dieses Merkmal gebunden. Zur Umsetzung dieser Rassenideologie wurde 1933 das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ erlassen und damit Menschen jüdischen Glaubens oder Abstammung von ihrer Berufsausübung ausgeschlossen. Auch gegen Menschen mit erblichen physischen oder psychischen Behinderungen oder psychischen Krankheiten wurde bereits 1933 das „Erbgesundheitsgesetz“ verfügt, durch das in „Erbgesundheitsgerichten“ in Zusammenarbeit von Mediziner_innen und Jurist_innen Sterilisationen der Betroffenen gegen ihren Willen durchgesetzt wurden. Insgesamt wurden schätzungsweise zwischen 200.000 und 350.000 Sterilisationen in der NS-Zeit durchgeführt.

Die rechtliche Festschreibung von „rassischer Einteilung“ von Menschen erfolgte im September 1935 in den Nürnberger Gesetzen. Im „Reichsbürgergesetz“ wurde nach Abstammung in „Deutschblütige“, „Juden“ und „Mischlinge Ersten und Zweiten Grades“ unterschieden, woran im Folgenden weitergehende Auflagen und Verbote geknüpft wurden. Ein weiteres „Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ wurde erlassen – eine euphemistische  Umschreibung des Verbots von Eheschließungen und Geschlechtsverkehr zwischen „Juden und Deutschen“. Dabei wurde auch das Frauenbild der Nationalsozialist_innen deutlich: Bei Zuwiderhandlungen wurde jeweils nur der Mann bestraft, da Frauen sexuelle Selbstbestimmung abgesprochen wurde. Allgemein sah das Frauenbild der Nationalsozialist_innen die Frau nicht als erwerbstätiges, selbstbestimmtes und gleichberechtigtes Individuum, sondern in der Rolle der Hausfrau und Mutter. Daher erfolgte ab 1933 eine Verdrängung der Richterinnen und Rechtsanwältinnen. Sie wurde in die Justizverwaltung versetzt und ein Ausscheiden aus dem Dienst begrüßt und forciert.

Die Rolle der Justiz bei der Diskriminierung von Minderheiten ist nicht zu unterschätzen. Neben der Untätigkeit und dem Ausbleiben von Protesten bei dem Erlass rassistischer Gesetze waren auch die Richter_innen und Staatsanwält_innen diejenigen, die diskriminierende Rechtsprechung im Alltag umsetzten. Im Zivilrecht, also dem Privatrecht und Miet-, Kauf- und Arbeitsrecht, war meist keine Gesetzesänderung notwendig; allein über eine von nationalsozialistischem Denken geprägte Auslegung wurden jüdische Menschen oder Zugehörige anderer Minderheiten rechtlich minderwertig gestellt. Nationalsozialistische Straftaten und Gewaltakte hingegen wurden mit äußerster Milde behandelt. Häufig wurde wie bei der Ausschaltung politischer Gegner_innen auch bei der Verfolgung von unerwünschten Gesellschaftsgruppen die Strafverfolgungskompetenz vollständig in die Hände der Gestapo gegeben, beispielsweise nach dem Pogrom vom 9./10.November 1938.

Allgemein ist in der Gesetzgebung, Rechtsprechung und Urteilsverkündung eine euphemisierte und verfälschende Sprache zu bemerken, die einer legitimierenden Darstellung der Ereignisse verhelfen sollte. Ursache von Bedrohung und Terror waren die Gegner_innen der „Volksgemeinschaft“. Verordnungen und Gesetze sollten lediglich zum „Schutz des deutschen Volkes“ verhelfen. Im vollen Ausmaß wird das an der sogenannten „Schutzhaft“ deutlich, hinter der sich Verhaftungen verbargen, die keine rechtsstaatlichen Grundsätze berücksichtigten und die Arbeitskraft der Häftlinge ausbeutete.

Juristen_innen im Dritten Reich

Wie in allen gesellschaftlichen Bereichen hatten die Parteifunktionär_innen der NSDAP auch in der Justiz Einfluss auf die Personalpolitik. Neben der Ausschaltung von Gegner_innen des nationalsozialistischen Denkens wurde versucht, wichtige Positionen in den Gerichten und dem Justizministerium mit Nationalsozialist_innen zu besetzen. Dabei war hilfreich, dass ein Großteil des juristischen Personals national und antidemokratisch eingestellt war. Konnte ein Parteizeugnis bereits ab Beginn der NS-Diktatur hilfreich für die persönliche Karriere sein, wurde die Mitgliedschaft in der NSDAP ab 1939 erforderlich für die Einstellung in den Beamtendienst, später auch für die Beförderung. Die Ausbildung der neuen Jurist_innen unterstand der Kontrolle durch die Nationalsozialist_innen.

Neben direkter Konfrontation durch die Partei, die häufig auf keinen großen Widerhall unter den Richter_innen stieß, wurden über das Reichsjustizministerium Vorgaben und Richtlinien ausgegeben. Über allgemeine Rundverfügungen und Richterbriefe wurde der beispielhafte Umgang in Verfahren dargestellt, in Tagungen mit den Präsident_innen der Gerichte wurde gezielt Druck auf einzelne Personen ausgeübt. Andererseits blieb bei der Strafzumessung Spielraum für die Richter_innen bestehen.

Die Lenkung durch das Ministerium und die Partei hatten großen Erfolg. Die überwiegende Zahl der Jurist_innen auf allen Ebenen passte sich freiwillig den Gegebenheiten an. Nur wenige ließen sich nicht vereinnahmen und mussten persönliche und berufliche Konsequenzen hinnehmen. Wer sich in partei- und staatsferne Bereiche versetzen ließ, konnte die Beteiligung an unrechtmäßigen Urteilen verhindern.

Strafrecht und Strafvollzug vor und im Zweiten Weltkrieg

Die Todesstrafe war sowohl im deutsche Kaiserreich als auch in der Weimarer Republik angewandt, der Einsatz von Todesstrafen aber bereits diskutiert und das Für und Wider abgewogen worden. Ab 1933 setzte eine allgemeine Verschärfung des Strafrechts ein. Die Anzahl der Straftaten, die mit einem Todesurteil geahndet wurden, vervielfachte sich und Tatbestände wurden möglichst weit formuliert. Der Strafprozess wurde möglichst schnell abgewickelt, die Rechte des_der Angeklagten und des_der Verteidiger_in dabei beschnitten. Gleichzeitig nutzte man in der Praxis die Möglichkeiten, die bei der Strafzumessung zu berücksichtigen waren, gnadenlos. Bei Hoch- und Landesverrat wurden die Tatverdächtigen vor dem Volksgerichtshof angeklagt. Bereits am 21. März 1933 wurde mit der „Verordnung der Reichsregierung über die Bildung von Sondergerichten“ in jedem Oberlandesgerichtsbezirk ein Sondergericht eingerichtet. Die Institutionen wurden vorrangig mit Nationalsozialist_innen besetzt. Sie bildeten gleichzeitig die erste und letzte gerichtliche Instanz, sodass das Verfahren beschleunigt wurde und Urteile endgültig waren, Beweise zur Entlastung mussten nicht berücksichtigt werden. Der Aufgabenbereich der Sondergerichte lag 1933 bei der Bearbeitung aller Tatbestände, die das „Reichstagsbrandgesetz“ und das „Heimtückegesetz“ betrafen, und wurde nach und nach durch zusätzliche Verordnungen erweitert. Dadurch erhöhte sich die Zahl der Sondergerichte von 26 auf 74 im Jahr 1942. Von den ungefähr 15.000 Todesurteilen, die zwischen 1940 und 1945 gefällt wurden, wurde die überwiegende Zahl von den Sondergerichten und dem Volksgerichtshof verhängt. In Strafverfahren wurde vor allem durch die Gestapo Folter benutzt, um ein Geständnis von den Angeklagten zu erzwingen – unabhängig davon, ob die Angeklagten schuldig waren oder nicht.

Innerhalb des Rechtssystems bildete sich durch die Aktivitäten der Partei und insbesondere der SS ein „Staat im Staat“. Konzentrationslager waren von Beginn der Inhaftierung von politischen Gegner_innen an ein rechtsfreier Raum, in dem der staatliche Strafanspruch nicht galt. Als Lagerordnungen mit unmenschlichen Verordnungen im Reichsjustizministerium bekannt wurden, versuchte der Reichsjustizminister Franz Gürtner bei dem Reichsführer der SS, Heinrich Himmler, durch Einspruch eine Änderung der Lage zu erwirken, scheiterte aber.

Zwischen der Justiz und Polizei gab es sowohl eine enge Zusammenarbeit hinsichtlich der Verfolgung von Hoch- und Landesverrat, als auch ein gegenseitiges Ausspielen der Kompetenzbereiche. Die Staatspolizei hatte einen weiten Spielraum und ihre Maßnahmen wurden kaum auf Rechtmäßigkeit geprüft. Als mit Kriegsbeginn die Polizei und SS eine eigene Gerichtsbarkeit bekamen, verschwammen die Grenzen zwischen Exekutive und Judikative vollends.   Während Reichsjustizminister Gürtner versuchte, die Machtbereiche der Justiz aufrechtzuerhalten, kooperierte sein Nachfolger Thierack mit der Polizei und SS. Er räumte ihnen das Recht ein, Gerichte zu überwachen und übergab die Gerichtshoheit über „Juden und fremdvölkische Zivilarbeiter“ an die SS.

Im Zweiten Weltkrieg steigerte sich die Konsequenz und Härte bei der Bestrafung, sodass immer mehr Todesurteile ausgesprochen wurden, die häufig in keinem Verhältnis zum Tatbestand standen. Eine Fülle an Verordnungen gegen die „Zersetzung der Wehrmacht“, „Feindbegünstigung“ und Plünderungen wurden erlassen und angewandt. Im Mai 1944 wurde beispielsweise eine Person zu einer sechsmonatigen Gefängnishaft verurteilt, weil sie auf den Gruß „Heil Hitler“ erwidert hatte: „Der Mann ist nicht mehr zu heilen.“

Der Volksgerichtshof übernahm die Rolle des obersten politischen Strafgerichtshof. Dessen Präsident Roland Freisler sah sich als „politischer Soldat Hitlers“ und erreichte mit der Radikalität seiner Urteile, dass sogar der Nachfolger des Reichsjustizministers Gürtner, Thierack, das Vorgehen missbilligte.

Für Mitglieder der Wehrmacht verfügte Hitler zu Beginn des Krieges einen „Gnadenerlass“, der die auf den besetzten polnischen Gebieten begangenen Taten unter Amnestie stellte. Alle ab dem 1. September 1939 begangenen Taten auf diesem Gebiet wurden somit unter nationalsozialistischer Führung in Kauf genommen und öffneten die Tür zu Gewalt- und Gräueltaten.[4]

Zusätzlich zu den seit jeher bestehenden Gerichten, den Sondergerichten und dem Volksgerichtshof wurden im letzten Kriegsjahr Standgerichte eingerichtet. Bereits vorher hatte es Sonder-Standgerichte für Taten von Wehrmachtssoldaten gegeben, die sich gegen die politische und militärische Vorgehensweise gewandt hatten. Nun wurden Standgerichte als alle Bevölkerungsgruppen übergreifende Gerichte eingerichtet. Sie sollten in den von Feinden bedrohten Gebieten die Unterstützung der deutschen Wehrmacht erreichen und von dem Überlaufen zu alliierten Truppen abschrecken. In den Standgerichten waren lediglich ein Strafrichter mit zwei Beisitzer_innen eingesetzt, auf das Verfahren sollte die Prozessordnung lediglich „sinngemäß“ angewendet werden und als Urteil konnte nur „Todesstrafe, Freisprechung oder Überweisung an die ordentliche Gerichtsbarkeit“ verhängt werden. Über Rundfunk wurde diese Verordnung verbreitet. Sie war Grundlage für willkürliche Verbrechen in der Endphase des Krieges. Dabei wurden sowohl Zivilist_innen, denen Feindbegünstigung nachgesagt wurde, als auch Mitglieder der Wehrmacht, die fahnenflüchtig wurden, ermordet. Darüber hinaus wurden Kriegsgefangene und KZ-Insass_innen kurz vor der Ankunft alliierter Truppen umgebracht oder bei „Todesmärschen“ aus den Konzentrationslagern von der Frontlinie weggetrieben.

Eine weitere Verschärfung der Lage ergab sich mit der Errichtung von „Fliegenden Standgerichten“. Diese Sondergerichte sollten sich ausschließlich mit Vergehen von Wehrmachtsangehörigen beschäftigen. Das Verfahren wurde von dem jeweiligen Dienstältesten geleitet, der alle Befugnisse zum Urteilen und Vollstrecken von Strafen hatte.[5]

III. Die Justiz und ihre NS-Vergangenheit – Entnazifizierung versus personelle Kontinuität

Im Frühjahr 1945 arbeiteten die deutschen Gerichte trotz Näherrücken der Front so lange wie möglich pflichtgemäß weiter. Bevor alliierte Truppen die Städte besetzten und die Verwaltung übernahmen, verbrannten die Verantwortlichen als „letzte Amtshandlung“ häufig noch belastende Akten und vernichteten so möglichst viele Beweise. Die alliierten Truppen verordneten zunächst in den von ihnen kontrollierten Gebieten die Schließung der deutschen Gerichte und übernahmen mit eigenen Gerichten die Rechtspflege.

Nach dem Kriegsende am 8. Mai 1945 setzten alle alliierten Verbündeten die Entnazifizierung und Demokratisierung der deutschen Bevölkerung, der Verwaltung und der Justiz als oberste Priorität. Der Alliierte Kontrollrat setzte die NS-Gesetze außer Kraft, verbot die NSDAP und ordnete die politische Überprüfung der gesamten Bevölkerung an. In der deutschen Justiz wurden 90 Prozent aller Beschäftigten im Sommer 1945 entlassen. Mithilfe von Fragebögen sollte die Mitgliedschaft in der Partei und die Unterstützung des NS-Regimes aller volljährigen Bürger_innen detailliert aufgenommen werden. Viele Unterstützer_innen des Regimes versuchten nun, ihre Lebensläufe möglichst positiv darzustellen und die eigene Verstrickung in das System kleinzureden. Sogenannte  „Persilscheine“, die eine Ablehnung des Nationalsozialismus trotz formaler Mitgliedschaft in der Partei belegen sollten, hatten Konjunktur. Während in der sowjetischen Besatzungszone ehemalige Jurist_innen dauerhaft aus dem Dienst entlassen und durch sozialistisch eingestellte Personen ersetzt wurden, erkannten die Alliierten in den Westzonen bald, dass der Aufbau der Justiz nicht ohne Wiedereinstellungen möglich war. Gering belastete Parteigenoss_innen wurden rehabilitiert, die Aufarbeitung der Mitschuld von stärker zu belastenden Jurist_innen wurde auf einen späteren Zeitpunkt verschoben. Dieser Aufschub erwies sich in der Retrospektive als Fehler, da viele überzeugte Unterstützer_innen des NS-Regimes als Mitläufer_innen eingestuft und nicht zur Rechenschaft gezogen wurden.

Als einziger Versuch der strafrechtlichen Untersuchung nationalsozialistischer Rechtsprechung wurden im Nürnberger Juristenprozess 1947 16 führende Richter_innen und juristische Beamt_innen angeklagt. Dabei wurden keine individuellen Urteile, sondern die NS-Unrechtsjustiz im Gesamten mit ihrer Gesetzgebung und Rechtsprechung als Instrument nationalsozialistischen Handelns betrachtet. Neben vier Freisprüchen wurden vier Mal lebenslängliche und sonst zeitweilige Freiheitsstrafen verhängt. Diese Strafmaße wurden auch im Vergleich zu anderen Urteilen in den Nürnberger Prozessen als zu mild erachtet. Obwohl deutsche Jurist_innen kritisierten, dass der Bezug auf die Ausführung von NS-Gesetzen nicht anerkannt wurde, wurde allgemein der Vorrang von Völkerrecht vor der staatlichen Souveränität als positiv bewertet.

Die personelle Kontinuität wurde im Mai 1951 durch ein im Bundestag fast einstimmig verabschiedetes Gesetz noch verstärkt. Bis auf Hauptschuldige und für den öffentlichen Dienst als untragbar eingestufte Belastete erwirkte dieses Gesetz ein praktisches Recht auf Wiedereinstellung. Trotzdem erfolgten Verfassungsbeschwerden, die die Schlechterstellung durch die Auflösung der bis zum Kriegsende bestandenen Beamten- und Versorgungsverhältnisse als verfassungswidrig erklärten. Das Bundesverfassungsgericht entschied jedoch, alle Beamtenverhältnisse seien am 8. Mai 1945 erloschen, und begründete dies nicht mit den alliierten Maßnahmen nach dem Krieg, sondern mit der Untergrabung der Neutralität des Beamtenverhältnisses und der Ausrichtung auf die NS-Ideologie. Dies rief starke Kritik hervor. Der Bundesgerichtshof betonte, die Änderungen im Verständnis des Beamtentums im Nationalsozialismus seien in „großen Teilen der Beamtenschaft terroristisch aufgezwungene […] Verpflichtung auf Hitler und Partei“.

Insgesamt kann die Entnazifizierung im juristischen Bereich als gescheitert angesehen werden. Die wenigsten Richter_innen wurden zur Verantwortung gezogen. Bei der Überprüfung spielten formale Angaben wie die Parteimitgliedschaft eine größere Rolle als Urteile, die durch die Unterstützung der nationalsozialistischen Ideologie oder ihrer Ablehnung aussagekräftiger waren, aber nicht berücksichtigt wurden. Weder die gesamtgesellschaftlichen Ursachen der NS-Herrschaft noch die Rolle der Justiz in dem Aufstieg der Nationalsozialist_innen oder persönliche Schuld wurden diskutiert. Richter_innen und Staatsanwält_innen schwiegen zu Vorwürfen oder betonten die Theorie des Rechtspositivismus, nach der sie an das geltende nationalsozialistische Recht gebunden waren. Die Frage, inwiefern Richter_innen primär an geltendes Recht oder an übergreifende Gerechtigkeit gebunden sind, wurde nicht gestellt. Wer in der NS-Zeit lediglich den damaligen „rechtsstaatlichen“ Vorschriften Folge geleistet hatte und kein Missbrauch dieser betrieben hatte, wurde weder strafrechtlich noch moralisch verurteilt. Beispielhaft kann hier die Aussage des deutsche Politikers Hans Karl Filbinger (CDU, 1913 – 2007) angeführt werden, bei dem  im Zuge der Betrachtung seiner Aktivitäten in der NS-Zeit seine Beteiligung an Todesurteilen bekannt wurde. Filbinger zeigte kein Unrechtsbewusstsein, sondern rechtfertigte sich mit den Worten „Was damals rechtens war, kann heute nicht Unrecht sein“ [6] und unterstrich damit die rechtspositivistische Auslegung der Unrechtstaten der Justiz in der Zeit des Nationalsozialismus.



[1]    Die ersten Frauen im Justizdienst wurden erst 1922 zugelassen, daher wird hier auf die gegenderte Version bewusst  verzichtet. Die deutsch-amerikanische Juristin Marie Munk ist als erste Richterin in Deutschland zu nennen. Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Marie_Munk, Stand: 19. Oktober 2013 11:15 h.

[2] Das Amt des Reichspräsidenten bekleideten in der Weimarer Republik Friedrich Ebert (von 1919 bis 1925) und Paul von Hindenburg (von 1925 bis 1934). Da das Amt nur von männlichen Amtsträgern ausgeführt wurde, wird hier und im Folgenden auf die gegenderte Version verzichtet. Frauen besaßen aber generell seit November 1918 aktives und passives Wahlrecht. In der verfassungsgebenden Nationalversammlung der Weimarer Republik stellten weibliche Abgeordnete einen Anteil von fast 10 Prozent; ein Wert, der in der bundesdeutschen Geschichte erst wieder im Bundestag von 1983 erreicht wurde (vgl. Schüler, Dr. Anja: Bubikopf und kurze Röcke. http://www.bpb.de/gesellschaft/gender/frauenbewegung/35265/weimarer-republik?p=all, Stand: 19. Oktober 2013, 11:55h.

[3] Beschluß des Großdeutschen Reichstags vom 26. April 1942. http://www.verfassungen.de/de/de33-45/index.htm, Stand: 19. Oktober 2013, 12:18 h.

[4] Gnadenerlass des Führers und Reichskanzlers. Vom 4. Oktober 1939. In: „Führer-Erlasse“ 1939 – 1945. Hg. von Martin Moll. 1997, S. 99 f. Für weitere Informationen zum Thema Wehrmacht und Wehrmachtsjustiz vergleiche Messerschmidt, Manfred: Die Wehrmachtjustiz 1933 – 1945. Paderborn, München, Wien, Zürich 2005. sowie Messerschmidt, Manfred; Wüllner, Fritz: Die Wehrmachtjustiz im Dienste des Nationalsozialismus. Baden-Baden 1987.

[5] Führererlass vom 9.3.1945, betrifft: Bildung eines Fliegenden Standgerichts. In: „Führer-Erlasse“ 1939 – 1945. Hg. von Martin Moll. 1997, S. 483.

[6]  vgl.: Affäre Filbinger: Was Rechtens war … . In: Der Spiegel. 20/1978. http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-40615419.html?name=Aff%26auml%3Bre+Filbinger%3A+Was+Rechtens+war, Stand: 19. Oktober 2013, 12:45 h. 

Fieberg, Gerhard: Im Namen des Deutschen Volkes. Justiz und Nationalsozialismus. Katalog zur Ausstellung des Bundesministeriums der Justiz. Hrsg. Bundesminister der Justiz. 4. Auflage 1996 

Mehr zu Justiz in Döbeln im Pin Amtsgericht und Gefängnis Waldheim