Kriegsfolgen, Flucht und Vertreibung

Grenzveränderungen nach dem Ersten Weltkrieg

Bereits vor 1933 gab es innerhalb Europas weitreichende Grenzveränderungen und damit verbundene Umsiedlungen und Vertreibungen von Bevölkerungsgruppen. Nach dem Ersten Weltkrieg waren zwei Großreiche, die Österreichisch-Ungarische Monarchie und das Osmanische Reich, zerfallen und Deutschland hatte als Folge des Krieges Territorium an Nachbarstaaten verloren. Durch Neugründung und Gebietsveränderungen von Staaten wurden mehr als 20.000 km neuer Staatsgrenzen festgelegt und rund 80 Millionen Menschen fanden sich über Nacht in einem neuen Staat wieder. Meist bestimmten anstelle des Selbstbestimmungsrechts der Völker politische Überlegungen der Entente die Neuverteilung der Gebiete. Durch die Grenzverschiebungen erreichte man, dass in den Staaten weniger Minderheitengruppen existierten. Um Konflikte zu vermeiden, wurde ein verfassungsrechtlich verankerter Minderheitenschutz vom Völkerbund gefordert und dessen Einhaltung kontrolliert. Da ein Nationalstaat in der Vorstellung der politischen Führungen und Bevölkerungen nur eine Volksgruppe umfassen sollte, wurden Minderheiten weiterhin als Störfaktoren empfunden. Als Lösung des Problems wurde die „Entmischung“ der Volksgruppen gesehen, als geeignetes Mittel zur Umsetzung sah man die Aussiedlung, Vertreibung und den Austausch von Bevölkerungsteilen an.

„Heim ins Reich“

Nachdem Hitler ab 1933 die nationalsozialistische Diktatur gesichert hatteund die Nationalsozialist_innen ihre innenpolitischen Vorstellungen weitgehend umgesetzt hatten, wandte er sich ab 1938 verstärkt außenpolitischen Zielen zu.

Zuerst wurde die geplante „Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich“ durch den Einmarsch am 12. März 1938 in Österreich in die Tat umgesetzt. Im September 1938 wurde dann das Münchner Abkommen zwischen dem Deutschen Reich und den französischen, britischen und italienischen Regierungen ohne Mitsprache der betroffenen tschechoslowakischen Regierung geschlossen. Damit wurde das Sudetengebiet, in dem Deutsche eine Mehrheit der Bevölkerung bildeten, von der Tschechoslowakei an das Deutsche Reich abgetreten. Auch die sogenannte „Rest-Tschechei“ wurde wenige Monate später besetzt und unter deutsche Verwaltung gestellt.

Im deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt, allgemein auch als „Hitler-Stalin-Pakt“ bekannt, hatten am 24. August 1939 der deutsche Außenminister von Ribbentrop und der sowjetische Kommissar für Äußeres Molotow im Auftrag ihrer jeweiligen Regierung die Versicherung unterschrieben, sich gegenseitig nicht anzugreifen und im Kriegsfall einer der Länder die Neutralität zugesichert. In einem geheimen Zusatzprotokoll wurde darüber hinaus „für den Fall einer territorial-politischen Umgestaltung“[1] die Besetzung und Aufteilung Polens und der baltischen Staaten festgelegt. Mit dem Einmarsch in Polen am 1. September 1939 als Reaktion auf fingierte Zwischenfälle an der deutsch-polnischen Grenze begann der Zweite Weltkrieg in Europa. Hitler ließ die in dem Pakt dem Deutsche Reich zugesprochenen Gebiete besetzen.

In der Reichstagsrede vom 06. Oktober 1939 betonte Hitler die Wichtigkeit der Umsiedlungen für die Festigung der „Volksgemeinschaft“ und kündigte eine „neue Ordnung der ethnographischen Verhältnisse“ an. Es wurde aber deutlich, dass seine Absichten über eine Zusammenführung der deutschen „Volksgemeinschaft“ hinaus auf die Erweiterung des Deutschen Reiches durch Eroberung östlicher Gebiete abzielte. Die besetzten polnischen Gebiete wurden in unterschiedliche Bereiche aufgeteilt: Die westlichen Gebiete wurden in Reichsgaue als Verwaltungsbezirke eingeteilt – die Reichsgaue „Danzig-Westpreußen“ und „Wartheland“, während im südöstlichen Gebiet das Generalgouvernement entstand. Die Reichsgaue wurden einer radikalen „Germanisierung“ unterzogen; das bedeutete, dass Deutsch als Amtssprache eingeführt, Polnisch in der Öffentlichkeit verboten wurde und die Bevölkerung Opfer einer rassischen „Säuberungsaktion“ wurde. Bereits in den folgenden Monaten bis zum Jahreswechsel 1939/40 wurden über 40.000 Menschen ermordet. Darunter waren vor allem Pol_innen jüdischen Glaubens oder Herkunft sowie Angehörige der „politischen Intelligenz“, von denen die Nationalsozialist_innen am meisten Gegenwehr erwarteten und die für die Ausbeutung als Arbeitskräfte von wenig Nutzen erschienen. Weitere tausende Menschen wurden nach und nach zur Zwangsarbeit in Arbeitslager oder in Konzentrationslager deportiert. Im Generalgouvernement wurde keine „Germanisierung“, dafür die Konzentration der als nicht assimilierbar angesehenen Bevölkerung betrieben. Besonders die jüdische Bevölkerung versuchte, in östliche Gebiete zu fliehen, die ab Ende September 1939 von sowjetischen Truppen besetzt worden waren und in denen sie (vorerst) keine Verfolgung durch die Nationalsozialist_innen zu befürchten hatten.

Neben dem militärischen Vorgehen gegen Polen gab es schon 1939 einen ersten Umsiedlungsvertrag zwischen Hitler und Mussolini, dem Führer des faschistischen Italiens. Den deutschsprachigen Südtiroler_innen wurde die Wahl zwischen dem Verbleib in Italien mit der Aufgabe der deutschen Sprache und Kultur und der Auswanderung in das Deutsche Reich gestellt. In den nächsten Jahren folgten weitere Umsiedlungsverträge: Aus osteuropäischen und südosteuropäischen Gebieten wurden deutsche Siedler_innen „heim ins Reich“ gebracht, auch wenn die deutschen Minderheitengruppen zum Teil bereits jahrhundertelang dort gewohnt hatten. Für die Nationalsozialist_innen waren die deutschen Siedler_innen auch wichtig für die Besiedlung der neu eroberten Gebiete im Osten. Systematisch wurden die Umsiedler_innen „rassisch geprüft“ und zur „Eindeutschung“ in den ehemals polnischen Gebieten angesiedelt.

Die sogenannten „Volksdeutschen“ stammten alle aus Gebieten, die sowjetisch besetzt werden sollten: Aus den baltischen Staaten (ab 1918 souveräne Staaten, heute souveräne Einzelstaaten), aus Wolhynien (vor 1939 zum größeren Teil Ostpolen, heute größtenteils zur Ukraine zugehörig), Bessarabien (vor 1939 zu Rumänien zugehörig, heute ein Teil Moldawiens), Bukowina (ab 1918 bis 1939 Teil Rumäniens, heute nördlich zur Ukraine, südlich zu Rumänien), Dobrudscha (heute zu Rumänien und Bulgarien zugehörig), Galizien (ab 1919 polnisch, ab 1939 westliche Gebiete im Generalgouvernement, östliche Gebiete sowjetisch besetzt, heute polnisch und ukrainisch) und Gottscheer (ehemalige deutsche Sprachinsel im Gebiet des heutigen Sloweniens). Die „Umsiedler_innen“ wurden ihrer Heimat entrissen und oftmals unfreiwillig in die besetzten, ehemals polnischen Gebiete zur Ansiedlung verschleppt.

Zweiter Weltkrieg

Im Zweiten Weltkrieg nahmen die Umsiedlungen und Vertreibungen von Minderheiten ein bis dahin ungekanntes Ausmaß an. Zur Umsetzung der Pläne der Expansions- und Lebensraumpolitik Hitlers wurde der „Generalplan Ost“ erstellt: Die Grenze des Deutschen Reiches sollte 1000 Kilometer nach Osten verlegt werden, dabei 30 bis 40 Millionen Menschen anderer Nationalitäten, die nicht in die Rassenideologie der Nationalsozialisten passten, deportiert werden und die neu eroberten Gebiete „germanisiert“ werden.

In der Sowjetunion wurden seit dem Angriff des Deutsche Reiches im Juni 1941 die deutschsprachige Bevölkerung zur Zwangsarbeit nach Sibirien, Kasachstan und Kirgisien gebracht. Von den 1,2 Millionen Deportierten kamen während des Transports und durch die schlechten Bedingungen ungefähr 30% ums Leben.

Die von den Nationalsozialist_innen durchgeführten Deportationen von „Fremdrassigen“ gipfelten in der Umsetzung ihrer fanatischen rassistischen Ideologie in der Vernichtung von Menschenleben. In größter Konsequenz war dabei die jüdische Bevölkerung betroffen, daneben fielen auch ethnische Minderheiten sowie behinderte Menschen und aus der Gesellschaft Ausgestoßene der Vernichtungspolitik zum Opfer. Hatten die Nationalsozialist_innen nach dem Beginn des Zweiten Weltkrieges Menschen jüdischer Herkunft oder Glaubens lediglich nach Osten deportiert, wurde ab 1941 die Systematisierung des Tötens in ganz Europa geplant und in der folgenden Zeit unerbittlich durchgeführt.

Umsiedlung, Flucht und Vertreibung der Deutschen

Schon während des Zweiten Weltkrieges hielten die Alliierten Konferenzen ab, formulierten Pläne für die Nachkriegszeit und diskutierten über den Umgang mit der deutschen Bevölkerung. Im Deutschen Reich sollten territoriale Einschnitte erfolgen: Die neue deutsch-polnische Grenze sollte nun entlang der Oder und der Neiße verlaufen und die deutsche Bevölkerung aus den abgetretenen Gebieten sowie deutsche Minderheiten in andere Gebieten ausgewiesen werden. Wieder sollten Umsiedlungen als Mittel zur Homogenisierung von Nationalstaaten genutzt werden. Dass bei der Vertreibung von Bevölkerungsgruppen erneut Ungerechtigkeiten und Missstände entstehen würden, wurde von den Alliierten in Kauf genommen.

Insgesamt wurden nach dem Zweiten Weltkrieg geschätzt 20 Millionen Menschen umgesiedelt und vertrieben, davon waren 14 Millionen Deutsche. Von diesen 14 Millionen Deutschen forderten die schlechten Bedingungen bei der Vertreibung und unmenschliche Behandlung bis zu 2 Millionen Todesopfer.

Bereits vor einer planmäßigen Umsiedlung durch die alliierten Mächte setzte bei dem Vorrücken der sowjetischen Truppen eine Fluchtbewegung aus den östlichen Gebieten des Deutschen Reiches ein. Ab Herbst 1944 verließen große Teile der deutschen Bevölkerung, obwohl die Nationalsozialist_innen Evakuierungen verboten hatten, trotz des harten Winters ihre Heimat Richtung Westen.

Nach der Einnahme der einzelnen Ortschaften und Städte durch die Rote Armee begannen sogenannte „wilde Vertreibungen“ ohne festgeschriebenen Ablauf und humanen Umgang mit der deutschen Bevölkerung. Besonders in Polen und der Tschechoslowakei, wo die Bevölkerung stark unter der deutschen Besatzung gelitten hatte, wurden viele Deutsche Opfer von Racheakten, Enteignungen und Vergewaltigungen. In Polen wurden insgesamt 400.000 Deutsche vertrieben; in der Tschechoslowakei wurde die deutsche Bevölkerung, rund 450.000 Menschen aus dem Sudetengebiet, ebenfalls vertrieben.

Im Juli 1945 wurde das Potsdamer Abkommen zwischen Großbritannien, der Sowjetunion und den USA geschlossen. Im Artikel XIIIwurde die Umsiedlung der deutschen Bevölkerung aus Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn festgelegt. Die Aussiedlung erfolgte dann nach Plänen des Alliierten Kontrollrates. Sie wurde von der jeweiligen einheimischen Verwaltung gelenkt und von britischen Beauftragten kontrolliert. Trotzdem gab es Überfälle auf die Züge der Vertriebenen, die Menschen litten unter katastrophalen hygienischen Verhältnisse und der schlechten Nahrungsversorgung. Jede Person durfte nur 50 Kilogramm Gepäck und 500 Reichsmark mit sich führen. Durch diese „geregelte“ Umsiedlung wurden ungefähr 3,3 Millionen Deutsche aus Polen und 2,2 Millionen aus der Tschechoslowakei und 200.000 aus Ungarn in die Besatzungszonen der Alliierten gebracht. Auch in Jugoslawien und Rumänien  wurden die deutschen Minderheiten entrechtet, vertrieben und teilweise zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion gebracht.

In den Gebieten, aus denen die deutsche Bevölkerung vertrieben wurde, verfolgten die Regierungen die Wiederbesiedlung durch die eigene Bevölkerung verfolgt. Innerhalb der polnischen Gebiete gab es Umsiedlungs- und Vertreibungsaktionen, von denen insgesamt 1,2 Millionen Menschen betroffen waren, da durch die Westverschiebung Polens ehemals polnische Gebiete an die Sowjetunion fielen, während im Westen das Oder-Neiße-Gebiet zu dem polnischen Staatsgebiet hinzukam. Die neuen westlichen Gebiete waren durch die Vertreibung der polnischen und jüdischen Bevölkerung durch die Nationalsozialist_innen und die Vertreibung der deutschen Bevölkerung dünn besiedelt und wurden die neue Heimat von Umsiedlern aus den nun sowjetischen Gebieten. Hinzu kamen Angehörige der weißrussischen und ukrainischen Minderheit, die zwangsweise ihre Heimat verlassen mussten und in den „wiedergewonnen Gebieten“ angesiedelt wurden, um eine schnelle Assimilation zu erreichen. Auch im Sudetengebiet in der Tschechoslowakei wurden tschechische Familien und Sinti und Roma und in den ostpreußischen Gebieten russische, weißrussische und ukrainische Bevölkerungsgruppen oftmals zwangsweise angesiedelt.

Trotz der Umsiedlungen lebten 1950 immer noch 1,5 Millionen Deutsche in den ehemaligen deutschen Ostgebieten und 1,8 Millionen in der Sowjetunion und anderen Gebieten. Über das Bundesvertriebenengesetz erfolgt bis heute eine Aufnahme von Aussiedlern und Spätaussiedlern in die Bundesrepublik.

Die Vertriebenen in den beiden deutschen Staaten ab 1949

In der Volkszählung von 1950 gewann man genauere Daten über den Anteil der Vertriebenen an der Bevölkerung: In der Bundesrepublik waren 16,5 % der Bevölkerung, in der DDR sogar rund 25% der Bevölkerung Vertriebene. Im Laufe der nächsten zehn Jahre sank der Anteil Vertriebener in der DDR durch eine weitere Flucht nach Westen. Mit der Ankunft der Flüchtlingsströme ergaben sich neue Herausforderungen für die gerade erst gegründeten Staaten, mit denen die DDR und die Bundesrepublik unterschiedlich umgingen. In der DDR wurde die Anpassung und Assimilation der neuen Bürger_innen vorangetrieben, der Begriff „Vertriebene“ wurde verboten und durch „Umsiedler“ ersetzt und damit etwaige Probleme verkannt. In der Bundesrepublik wich man von einer vollständigen Assimilation ab und versuchte eine wirtschaftliche und soziale Eingliederung zu erreichen. Durch den Ausbau des Wohnungsbaus wurde die Wohnungsnot gemildert und im Lastenausgleichsgesetz von 1952 den Vertriebenen und Kriegsopfern eine Entschädigung für verlorenes Vermögen zugesprochen. Auch das Kulturgut der Ausgesiedelten wurde unter besonderen Schutz gestellt.

Die wirtschaftliche und soziale Eingliederung war erfolgreich und wurde durch das Wirtschaftswunder in den 50er-Jahren und die allgemeine Neuordnung der Wirtschaft und Politik in der Bundesrepublik unterstützt. Nach der Aufhebung des Verbots zur Bildung von Organisationen wurden ab 1949 der Zentralverband vertriebener Deutscher (ZvD), der Bund der Vertriebenen und zahlreiche Landsmannschaften gegründet. In der „Charta der deutschen Heimatvertriebenen“ wurden gleiche Rechte und Lastenverteilung und die Schaffung berufsgemäßer Arbeitsplätze gefordert. Die Interessen der Vertriebenen wurden anfänglich durch den „Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten“ im Bundestag und bis 1969 durch ein Bundesministerium für Flüchtlinge, Vertriebene und Kriegsgeschädigte vertreten. Auf individueller Ebene erfuhren die Vertriebenen aber häufig Ablehnung durch Alteingesessene, fanden in ihrem Beruf keine Arbeit und wohnten jahrelang mit ihren Familien in Flüchtlingslagern. Trotz dieser vielen negativen Aspekte und Schwierigkeiten verzichtete man in der Charta der Heimatvertriebenen auf Racheabsichten und stellte – bis auf wenige abweichende Meinungen, die weiterhin ihren Anspruch auf ihre Heimat forderten – die Schaffung eines geeinten Europas in den Vordergrund.



[1]vgl. http://www.ns-archiv.de/krieg/sowjetunion/vertrag/nichtangriffspakt.php, Stand: 18. Oktober 2013, 17:14 h.

Sienkiewicz, Witold: Zwangsumsiedlung, Flucht und Vertreibung 1939 - 1959 : Atlas zur Geschichte Ostmitteleuropas. Hrsg. Bundeszentrale für politische Bildung, 2010. 

 

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